Industrie 5.0
Gastbeitrag von Prof. Marco Lübbecke – vielen Dank dafür!
Industrie 4.0 ist in aller Munde,
eine Vorstellung haben viele, eine genaue Definition eher wenige. Ich lasse ausgewählte Vokabeln auf Sie wirken:
Digitalisierung; vollständige Vernetzung; Verknüpfung aller Daten; Revolution; „Prozesse und Entscheidungen werden in nie dagewesener Geschwindigkeit ablaufen“; Systeme „steuern sich selbst“; „analyze everything“; selbstorganisierte Produktion; hochindividualisierte Produkte; umfassende Flexibilisierung; digitale Transformation; neue Stufe der Organisation und Steuerung der Wertschöpfungskette über den kompletten Produktlebenszyklus; ein Konzept, nicht nur Technologie; unaufhaltsam. Insbesondere sind Digitalisierung, Vernetzung, und Intelligenz zentrale Elemente der Beschreibungen.
Wir stellen uns Industrie 4.0 so vor, dass umfassend Daten gesammelt werden, alles wird analysiert, alle sprechen mit allen. Die Hoffnung auf „ungeahnte Möglichkeiten“ sind groß und meiner Meinung nach berechtigt. Ich lese aber auch etwas heraus, was ich mal „Verdrängung“ nennen möchte. Wie soll es konkret aussehen, dass Systeme „sich selbst steuern“? Woher kommen Vorschläge für Entscheidungen, die mit nie dagewesenem Tempo getroffen werden? Was machen wir mit den Analysen, die in enormem Umfang verfügbar werden?
Ich glaube, dass in der Euphorie zu wenig betont wird, dass weder Daten noch Vernetzung einen Mehrwert an sich darstellen. Daten sind noch keine Erkenntnisse. Selbst Erkenntnisse sind noch keine Entscheidungen. Nota bene: auch selbst-entscheidende Maschinen müssen Entscheidungen treffen! Und wenn die Zahl möglicher Entscheidungs-Alternativen rasant wächst, wer kann den Überblick behalten, aus diesen Alternativen vernünftig auszuwählen? Wer kann beurteilen, ob die Maschine gut geplant hat?
Hier kommt die Mathematik ins Spiel, genauer die mathematische Optimierung. Sie kann und muss die Brücke schlagen, von den technologischen Möglichkeiten zur konkreten Handlungsempfehlung. Auch in der Produktion 4.0 geht es im Kern immer wieder um dieselben Fragen: in welcher Reihenfolge, zu welchen Zeiten, in welchen Stückzahlen, für welche Kunden, in welcher Qualität, zu welchem Preis, auf welchen Ressourcen, mit welchen Kapazitäten, usw. sollen wir wann, wo, wieviel, wovon produzieren? Industrie 4.0 bedeutet für mich in erster Linie: Möglichkeiten schaffen, weggehen zu können von Entscheidungen, die (im besten Fall) auf der Bewertung einiger weniger Szenarien beruhen. Wenn wir durch Datensammlung und Vernetzung z. B. die technologischen Freiräume schaffen, kundenindividuell zu produzieren, dann sollten wir auch die mathematischen Möglichkeiten anwenden, diese Freiräume bestmöglich zu nutzen. Ansonsten verpufft das Potenzial.
Descriptive, Predictive, Prescriptive
Daten werden heute schon in Dashboards und Tabellenkalkulationen gesammelt, um überhaupt einen Überblick über den Status Quo zu erhalten. Menschen entscheiden dann aufgrund ihrer großen Erfahrung. Man nennt das descriptive analytics, und das ist in allen Unternehmen angekommen.
Vielleicht beschäftigen Sie Data Scientists, die Ihre mannigfaltigen Daten aufbereiten, auswerten, daraus Prognosen erstellen und Entscheidungsgrundlagen erarbeiten. Im Englischen heißt das predictive analytics. Auch der große Wachstumsbereich des maschinellen Lernens (machine learning) fällt hierunter. Einige Unternehmen sind hier schon dabei.
Letztlich werden hier aber auch nur einige wenige Entscheidungs-Alternativen technisch hochwertig bewertet. Führt das zu guten Entscheidungen? Diese Frage kann Ihnen erst das prescriptive analytics beantworten. Hier wird auf Basis von mathematischen Modellen und Methoden ein Entscheidungsvorschlag berechnet, der die unübersichtlich große Zahl aller Alternativen berücksichtigt und unter diesen eine beste auswählt. Das mathematische Teilgebiet, das sich damit beschäftigt, nennt sich mathematische Optimierung. Manche kennen hier den etwas verstaubten Begriff des Operations Research. (Mögliche Anwendungen von Operations Research wie z.B. Wahlkreiseinteilungen bespricht Prof. Lübbecke im Beitrag „Die Mathematik der Entscheidungen“ in den RWTH Themen.)
Bejahen wir die Mathematik
Welche Begriffe wir auch immer verwenden, Industrie 4.0 wird uns (oder Maschinen) vor unbekannt komplexe planerische Herausforderungen stellen. Diesen sollte mit Mitteln begegnet werden, die der Komplexität angemessen sind. Das bedeutet auch: sagen wir ja zur Mathematik und Informatik nicht nur als „Service“ und „Zuarbeit“, sondern als zentrales Element, als Teil des Werkzeugkastens des Managers 4.0.
Wenn ich dazu aufrufe, bin ich offenbar der Meinung, dass dies heute zu wenig geschieht. Ich denke, dass diese “Verleugnung” auch einer Angst zu schulden ist, dass die Mathematik und Informatik, die uns erwartet „zu schwer“ für uns sein wird. Dass nicht nur Prozesse und Systeme wahnsinnig komplex sind, sondern die Modelle und Methoden zu ihrer Beherrschung ebenfalls. Dass wir das alles nicht mehr verstehen, von anderen gar als dumm angesehen werden. Dann sich besser gar nicht damit befassen?
Richtig ist, dass moderne mathematische Algorithmen Menschen oder Maschinen gute oder sogar beste Entscheidungen vorschlagen können. Denken Sie ganz banal an die Algorithmen in einem Navigationsgerät, das Sie auf einen kürzesten Weg leitet. Solche Beispiele gibt es schon heute zahlreich in Produktion, Logistik, Verkehr, Energie, Gesundheitswesen usw. Richtig ist, dass diese Verfahren nicht einfach zu verstehen sind, auch für Experten nicht. Richtig ist aber auch, dass die Bedienung und Verwendung dieser Algorithmen heute sehr viel einfacher geworden sind, weil es herausragende Standardsoftware* gibt, auch komplexe Entscheidungs- und Planungsaufgaben abzubilden. Wenn Sie tatsächlich Intelligenz wollen, dann brauchen Sie Mathematik.
Wenn ich also heute etwas raten darf: "Bevor Sie „blind“ Daten sammeln und „alles“ vernetzen (oder vernetzbar machen), holen Sie sich Rat über die mathematischen Möglichkeiten, was mit welchen Daten erreichbar ist. Sammeln Sie schlau und richtig, mit einem Ziel vor Augen. Kaufen Sie keine Software, auf der nicht das Label „Mathematik inside“ steht. Geben Sie sich nicht mit weniger als mathematischer Optimierung zufrieden. Ihre Mitbewerber werden es auch nicht tun."
Vielleicht reden wir bald von der mathematisierten Fabrik, wer weiß? Vielleicht wird die mathematische Revolution auch erst mit Industrie 5.0 kommen. Aber sie wird kommen. Ich freue mich darauf.
Prof. Dr. Marco Lübbecke
Head of Chair of Operations Research RWTH Aachen University